Wie heißt es in Schillers Wilhelm Tell: „Früh übt sich, wer ein Meister werden will“. Dass es auch anders geht, weiß Simon Gietl. Er hat die Liebe zum Klettern vergleichsweise spät entdeckt – mit 18. Nichtsdestotrotz gehört er heute zu den besten Klettersportlern der Welt. Ein Gespräch über Ängste und Gefahren. Und darüber, was ihn Tag für Tag antreibt.
Text: Stefan Unterthurner / Foto: Claudia Ziegler | Simon Gietl backgrounds
Simon, dein Motto lautet: “Fühl dich stark, aber nicht unsterblich“. Inwiefern hilft dir dieser Leitspruch, wenn du dich aufmachst, einen Granitturm wie jenen des Grundtvigskirken in Grönland zu besteigen?
“Fühl dich stark aber nicht unsterblich” ist meine persönliche Erfahrung, die ich vor vier Jahren bei einem Kletterunfall gemacht habe. Dieser Spruch hilft mir bei der Realität zu bleiben!
Auf diesen Unfall vor vier Jahren kommen wir später zurück. Bleiben wir vorerst noch im hohen Norden. Eure Tour durch die 1.325 Meter hohe Felswand in Grönland wurde auf den Namen „Eventyr“ getauft, was so viel bedeutet wie Märchen, Abenteuer. Würdest du sagen, dass dies dein bisher größtes Abenteuer als Kletterer war?
Rundum das Meer, Eisberge, der Fjord – eine fast unwirkliche Landschaft, wie sie nur in Märchen vorkommen kann, daher der Name. Durch die Anreise (drei Tage Schlauchboot fahren) und das Weitwegsein von der Zivilisation war die Expedition sehr speziell und gehört mit Sicherheit zu meinen größeren Abenteuern.
Wie bist du auf diesen Turm, eure Big Wall, im ostgrönländischen Renland aufmerksam geworden?
Der Schweizer Fotograf Thomas Ulrich war zwei Jahre zuvor in dieser Gegend und sah von weitem den Berg. Er machte uns darauf aufmerksam, dass dies ein schönes Projekt sein könnte. Es dauerte nicht lange und einige Monate später befanden wir uns bereits auf dem Flug dorthin.
Wie lange wart ihr in der Wand unterwegs?
Insgesamt brauchten wir fünf Tage bis zum höchsten Punkt.
VIDEO: Simon Gietl, der Gratwanderer
Wie war’s am Gipfel? Wie hast du dich gefühlt? An was oder wen hast du in diesem Moment gedacht?
Nach 1.325 Meter steilem Fels war ein vier Quadratmeter großes Plateau der Gipfel. In solchen Momenten ist der Adrenalinschub so hoch, dass man nicht begreift, was überhaupt los ist. Ein Glücksgefühl schießt durch den Körper… ja, wir vier tanzten Hand in Hand wie kleine Kinder, alle waren nur noch happy.
Wer Fotos oder Videoaufnahmen eurer Tour gesehen hat, der kann sich in Ansätzen ein Bild davon machen, wie traumhaft die Expedition mit Roger Schäli und Daniel Kopp gewesen sein muss. Wolkenloser Himmel, gleißende Eisberge, das Meer… Man möchte fast meinen, ihr hättet mit überhaupt keinerlei Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt?
Ja, es war einfach perfekt!
In einem Ausschnitt deiner aktuellen Multivisionsshow zur Expedition ist allerdings eine Szene zu sehen, in welcher sich plötzlich ein Stein löst, die Wand herabstürzt und beim Aufprall das Seil eures Fotografen nur um Zentimeter verfehlt. Was geht einem in einem solchen Moment durch den Kopf?
In der Wand selber wird einem in solchen Momenten schon bewusst, was es bedeutet hätte, wenn der Stein das Seil getroffen hätte… so richtig realisiert, wie nah Glück und Unglück beieinander liegen, und darüber gesprochen wurde erst zu einem späteren Zeitpunkt.
Teil eures Teams in Grönland war auch Expeditionsleiter und Fotograf Thomas Ulrich. Was viele Leser interessiert: Wie schafft es ein Fotograf samt Ausrüstung über eine solche Wand, auf einen solchen Gipfel?
Wir haben Fixseile installiert und mit Hilfe von Steigklemmen war es Thomas leicht möglich, sich über eine solche Wand „hochzujumaren“ (Nutzung einer Steigklemme, a.d.R.). Allerdings muss ich auch darauf hinweisen, dass Thomas Klettererfahrung hat und körperlich fit ist – das sind zwei wichtige Komponenten bei einer Expedition am Berg. Was seine Ausrüstung anbelangt, da muss ich zugeben, kam es uns auf seine zehn Kilos nicht mehr darauf an, denn unser Material wog bereits weit mehr als 100 Kilo. Abwechselnd haben wir dann Klettermeter für Klettermeter alle benötigten Materialkilos hochgezogen. Worauf aber sehr wohl zu achten war, war die Tatsache, dass seine zehn Kilo einen Wert von mehr als 20.000 Euro hatten.
Neben der Grönland-Expedition hast du in der Vergangenheit auch immer wieder mit anderen Projekten von dir reden gemacht. Man denke an die Gipfelsiege mit Roger Schäli in Patagonien oder aber auch an die eine oder andere spektakuläre Dolomiten-Begehung mit deinem Bruder Manuel. Wie wichtig ist er für dich – als Mensch wie als Sportler?
Er zählt zu den wichtigsten Menschen in meinem Leben. Es verbindet uns weit mehr als so manch spektakuläre Dolomiten-Begehung. Als Sportler ist er ein nicht unterzukriegendes Kraftbündel, als Mensch steht er zu seinem Wort und als Bruder ist er ein großes Vorbild für mich!
Foto: Frank Kretschmann | Simon Gietl backgrounds
Simon, der 24. April 2007 war für dich und deinen Bruder ein folgenschwerer Tag. Du warst mit Manuel im Hochpustertaler Toblach, genauer gesagt im Höhlensteintal in der Geierwand unterwegs, als er plötzlich im Vorstieg abstürzte und sich schwer am Becken verletzte. Wie hast du diesen April-Tag in Erinnerung und wie sehr prägte dich diese s Ereignis in weiterer Folge?
Ich habe diesen Tag noch sehr gut in Erinnerung, und damit bin ich nicht allein, denn auch heute noch sprechen Manuel und ich immer wieder über diesen Tag. Es war mein erster Kletterunfall bei dem ich live dabei war. Mit den Worten „Das ist nicht so schlimm“ haben wir uns beruhigt und somit unsere Konzentration auf das Abseilen gelenkt, obwohl jeder für sich wusste, dass Manuels Verletzung weit mehr war als nur halb so schlimm. Während Manuel mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen wurde, wartete auf mich noch ein halbstündiger Fußmarsch bis zum Auto und der Anruf zuhause, welcher meine Eltern darüber aufklärte, was mit uns in den letzten 1 ½ Stunden passiert war.
Wenn man dich nun, Jahre später klettern sieht, scheint dieser Schreckenstag in weite Ferne gerückt. Dein Bruder ist wieder in den Bergen unterwegs und du gehörst zu den besten Kletterern der Welt, obwohl du im Vergleich zu anderen erst spät mit dem Sport begonnen hast – mit 18. Eine Frage, die du sicherlich schon oft beantwortet hast: Wie bist du eigentlich zum Klettern gekommen und vor allem: Wie erklärst du dir heute deine Entwicklung als Sportler samt all deinen Erfolgen?
Auf den Geschmack gekommen bin ich wie folgt: Eines Abends machte ich von Toblach nach Bruneck Autostopp und der Anhalter, der mich mitnahm, kam gerade von einer Klettertour an den Drei Zinnen – für den Gesprächsstoff war somit gesorgt. Während der Autofahrt hat er mir erklärt, dass beim Klettern zwischen Sportklettern (gut abgesichert) und Alpinklettern (schlecht abgesichert) unterschieden wird. Seine Erzählungen haben mich neugierig gemacht und so hab ich mich mit meinem Bruder und einer Handvoll Freunden am darauffolgenden Wochenende zum Klettern aufgemacht. Bei mir pendelte es sich dann so ein, dass ich am Wochenende immer Alpin unterwegs war und unter der Woche Sportkletterte, da die Zeit nicht ausreichte, was Längeres zu klettern.
Der Schwierigkeitsgrad war für mich von Anfang an Nebensache. Ich suchte nach Touren, bei welchen der Kopf gleich wichtig ist wie der Muskel: Touren, bei welchen viel selbst abzusichern ist und Touren, in welche andere nie wieder einsteigen würden, da sie brüchig und schlecht abgesichert sind. Erfüllte eine Tour eine der genannten oder mehrere dieser Voraussetzungen, so war schon das nächste Wochenende verplant. Ich war viel in solchen Touren unterwegs und ich glaube, die daraus resultierenden Erfahrungen helfen mir heute sehr viel weiter, v.a. dann, wenn ich in Neuland unterwegs bin und alles nicht so rosig ausschaut. Als Kletterer will ich mich weiterbilden und das bedeutet nach wie vor intensives und hartes Training und dankbares Annehmen einer jeden Erfahrung.
Wenn man andere Kletterer nach ihrer Motivation fragt, bekommt man vielfach zu hören: „Es ist wie eine Droge“. Was treibt dich an, all die körperlichen und mentalen Strapazen immer wieder aufs Neue auf dich zu nehmen?
Ich bin einfach glücklich, wenn ich in den Bergen unterwegs sein darf. Natürlich ist es nicht immer leicht, aber meine Liebe zu den Bergen ist momentan zu groß. Ja, es ist eine Sucht und es wird immer was Neues am Horizont auftauchen, wenn ein Ziel erreicht ist. Aber so ist das Leben, denke ich.
In einem deiner Vorträge hast du jüngst erklärt, es sei wichtig zu wissen, wann genug ist. Evolutionsgeschichtlich betrachtet hilft uns dabei auch die Angst als natürlicher Schutzmechanismus, als menscheigene „Alarmanlage“ sozusagen. Hast du Angst?
Dazu sage ich folgendes: Es ist jetzt 01:04 Uhr, vor drei Tagen hatte ich einen Kletterunfall! In einem Klettergarten stürzte ich sieben Meter auf den Boden, dazwischen schlug ich einmal auf. Ich hatte echt viel Glück. Ich kann nicht schlafen, da mich der Vorfall ziemlich beschäftigt… Ja, ich hab Angst (!) und das ist auch gut so!
Auch wenn du als erwachsener Mann letztlich für dich alleine verantwortlich bist: Wie gehst du mit der Angst anderer um, mit den Bedenken der Eltern, deiner Freundin oder Freunde?
Das ist ein sehr schwieriges Thema, denn ich bin ein Familienmensch. Ich bin glücklich meine Familie, Freundin und Freunde zu haben, es ist wundervoll zusammen mit ihnen Zeit zu verbringen. Da ich viel unterwegs bin, versuche ich die Zeit, die ich bei meinen Liebsten bin, so intensiv wie möglich zu leben. Wenn ich in einer Wand biwakiere und der Tag langsam zu Ende geht, hat man Zeit nachzudenken: In solchen Situationen denke ich nicht an meine Erfolge, im Gegenteil, da frag ich mich was wohl meine Familie, meine Freundin und meine Freunde so treiben und wie es ihnen geht. Solche Momente zeigen mir, wie wichtig, Familie, Freundin und Freunde sind… sie bedeuten mir nämlich alles.
Dennoch: Für den Laien wirkt es oft so, als würdet ihr auf euren Touren mit dem Tod spielen. Du stehst mitten in einer Wand, hinter dir nichts als hunderte von Metern im senkrechten, freien Fall und trotzdem bist du nie um einen Schmäh verlegen. Wie wichtig ist in solchen Situationen Gelassenheit und Humor?
In ernsten Situationen kann ein guter Spruch Wunder wirken :-)
Um Ängste oder Gefahren, wie auch du sie in den Bergen erlebst, zu überwinden, belassen es einige nicht nur bei einer ordentlichen Portion Galgenhumor. Manche Sportler greifen zu Hilfsmitteln. Ein Thema, über welches kaum gesprochen wird, ist Doping im Berg- und Klettersport. Der Extrembergsteiger Stephan Keck sagte dazu vor einiger Zeit in einem Interview, er gehe soweit, wie ihn sein Körper bringt. Dann drehe er um. Wie stehst du dazu?
Ich teile Stephan Kecks Aussage, muss aber noch hinzufügen, dass mein Aufputschmittel in der Früh Kaffee ist, am liebsten zwei Tassen – für jedes Auge eine.
Simon, als Kletterer und Bergsteiger kommst du viel in der Welt herum – auch in Gegenden, in welchen es den Menschen an allerlei mangelt. Wie gehst du als Person und Sportler damit um?
Es ist nicht immer leicht, wenn man Menschen sieht, die auf der Straße wohnen bzw. kein Dach über dem Kopf haben. Es wird mir dabei bewusst, wie gut es mir doch geht. Wenn ich in die Augen der Kinder blicke, dann werde ich schwach und muss was verschenken, Süßigkeiten oder ein kleines Taschengeld. Nach jeder Expedition verschenke ich zum Großteil meine Ausrüstung, als kleines Dankeschön für die Gastfreundschaft.
Foto: Claudia Ziegler | Simon Gietl backgrounds
Kommen wir abschließend zu den Fragen unserer Leser: Auch wenn ich’s mir durchaus vorstellen kann, aber: Hand aufs Herz, wie verrichtet man in einem Hängezelt seine Notdurft?
Ach, das geht ganz einfach, den Allerwertesten hinaus halten und los geht’s… So manches Mal wird auch das Spiel gespielt: wer trifft was.
Eure Lebensmittelvorräte sehen zum Teil alles andere als verlockend aus. Von was ernährt man sich auf einer solchen Expedition, wie jener in Grönland? Und: Wie sehr freut man sich in kulinarischer Hinsicht auf die Rückkehr in die Heimat?
Hauptsächlich gibt’s Essen aus der Tüte und das kocht sich ganz einfach: Tüte öffnen, heißes Wasser draufschütten, umrühren, etwas warten und fertig. Es gibt allerhand Sorten, zum Beispiel: Reis mit Pilzen, Tomatensauce mit Nudeln, Hühnchen mit Reis, Carbonara… und das alles ganze drei Wochen lang. Nach einem solchen Menüplan gibt’s am Ende einer Expedition nur etwas worauf ich mich am meisten freue: ein Stück von Muttis Apfelstrudel.
Abgesehen von Muttis Apfelstrudel, welcher dir mit Sicherheit gut tut: Wie erholst du dich von deinen Touren? Wie kommst du zur Ruhe?
Bei Bergtouren mit meiner Freundin.
Was sollte ein junger, angehender Kletterer beherzigen?
Die Anfangszeiten sind weitaus die gefährlichsten, weil man jung und unerfahren ist und sich nicht gerne etwas sagen lässt. Aber das Wichtigste ist nach wie vor: Immer gut fest halten und nie los lassen!
Welche großen Projekte hast du für die Zukunft geplant?
Gesund zu bleiben und noch viele Tage im Kreise lieber Menschen und in den Bergen zu verbringen.
Beschreibe doch bitte in fünf Stichworten den Menschen Simon Gietl.
Meine Freundin beschreibt mich folgendermaßen: Ehrlich, zielstrebig, unkompliziert, naturnah, einfach ein Mensch zum Verlieben…
Simon, vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für die Zukunft.
Bilder und weitere Infos zur Grönland Tour von Simon Gietl gibt’s hier.
Kontakt:
Simon Gietl
Tel.: +39 347 4474950
info@simongietl.it
www.simongietl.it
Geschrieben von Michael Niederwolfsgruber Michael liebt es zu Reisen auf der ganzen Welt. Besonders von Naturlandschaften ist er fasziniert. Primär sind es Berge, Nationalparks, Seen sowie Strand und Meer. In seiner Freizeit fotografiert er gerne und kreiert Videos von den Orten, welche er besucht. Nicht nur die Naturparadiese der Malediven, Seychellen oder der USA gehören zu seinen Lieblingsdestinationen, sondern vor allem seine eigene Heimat, die Dolomiten. Michael auf InstagramMichael auf Facebook